In einem bemerkenswerten Urteil vom 23.9.21 bestätigte das Landgericht Köln mittels gewagter richterlicher Tatbestandsergänzung des Telemediengesetzes die Verurteilung einer fast achtzigjährigen Dame als Filesharerin zu 2000 € Schadensersatz. Somit ist das eigens als Schutz für ehrenamtliche Freifunker bekräftigte Haftungsprivileg im Telemediengesetz hinfällig, der Gesetzgeber hat offensichtlich die marode gesparte Funktionsfähigkeit seiner Gerichte überschätzt.
Vor deutschen Gerichten ist mittlerweile die Verteidigung von AnschlussinhaberInnen gegen den Vorwurf, mittels Filesharing eine Urheberrechtsverletzung begangen zu haben solange aussichtslos, bis die AnschlussinhaberIn die TäterIn ermittelt und deren Namen und ladungsfähige Adresse den RechteverwerterInnen mitteilt.
An die Stelle der Störerhaftung tritt die Pflicht der AnschlussinhaberInnen, Angaben über gefährdnungsrelevantes Nutzerverhalten zu machen. Diese schwerfällige Konstruktion ziehen RichterInnen aus dem § 138 Abs. 2 ZPO, der sekundären Darlegungslast. Denjenigen, die sich gegen ungerechtfertigte Schadensersatzansprüche wehren möchten, wird eine sekundäre Behauptungslast auferlegt. Voraussetzung dafür ist aber nicht nur, dass die RechteverwerterInnen keine nähere Kenntnis über die TäterIn besitzen, sich diese auch nicht verschaffen können und daher pauschal irgendjemanden als TäterIn benennen dürfen.
Zu den Voraussetzungen der sekundären Darlegungslast gehört normalerweise auch, dass die AnschlussinhaberIn über Kenntnisse zur Täterschaft verfügt und ihr die Herausgabe näherer Angaben dazu auch zumutbar ist. Dieser Teil wird von den RichterInnen jedoch nicht geprüft. Über die wichtige Frage, ob Kenntnisse über die TäterIn überhaupt vorhanden sind und ob diese Datenherausgabe überhaupt zumutbar ist, wird richterlich geschwiegen.
Denn daraus formuliert sich eine grundlegend relevante Frage: Wie erhält die AnschlussinhaberIn Kenntnis von der TäterIn der Urheberrechtsverletzung? Hat sie wirklich mehr Wissen über die Urheberrechtsverletzung als die RechteverwerterIn?
Diese entscheidende Frage wird von den RichterInnen ignoriert, so zum Beispiel nun auch von der 14. Zivilkammer des Landgericht Köln.
Diese fehlerhafte Gesetzesanwendung untergräbt das gesetzgeberische Versprechen, AnschlussinhaberInnen könnten und sollten problemlos ihre Anschlüsse teilen: Die Haftungsgefahr aufgrund Handlungen Dritter war ja spätestens mit der Novellierung des Telemediengesetz im Herbst 2017 abgeschafft. Dort hatte der Gesetzgeber der gesellschaftlichen Notwendigkeit Ausdruck verliehen, Internet-Anschlüsse zu teilen.
Sehen wir uns das Urteil (Az. 14 S 10/20) vom 23.09.2021 an auf der Suche, welche Fragen und Feststellungen das Gericht traf:
Die alte Dame wurde ausdrücklich als Täterin der beiden gegenständlichen Urheberrechtsverletzungen verurteil. Das Gericht unterstellt der Beklagten, sie hätte beide Urheberrechtsverletzungen an dem Rechner ihres Sohnes oder ihres Ehemannes vornehmen können. Das ist ein interessanter Kniff des Gerichts, denn die Klägerin selber trägt derartiges nicht vor.
Noch spannender ist der Umstand, dass die Beklagte angab, sie hätte auf Grund ihres Alters nie die Fähigkeiten erlangt, mit Rechnern umzugehen, geschweige denn an Tauschbörsen über Bittorrent teilzunehmen. Diesen offensichtlichen und mehrfach vorgetragenen Umstand ignorieren die Richter schlicht. Ein solches Ausblenden von Tatsachen vor Gericht ist unerhört und lässt sich nur damit erklären, dass andererseits eine Verurteilung als Täterin unmöglich wäre.
Der Sachvortrag der Beklagten wird also dahingehend verkürzt und richterlich gelenkt, dass eine zwar unwahrscheinliche Möglichkeit bestand, die Beklagte nutzte fremde Rechner und habe fahrlässig Filesharing betrieben. Diese Ansicht begründen die erkennenden Richter mit langjähriger Erfahrung in Filesharing-Fällen. Mich dünkt schwer, dass hier gar nicht die Beklagte verurteilt wurde, sondern ein allgemein nach Richteransicht kriminelles Handeln im Internet.
Der Gesetzgeber und seine Haftungsprivilegierung im § 8 Telemediengesetz
Aufregend bis zum Herzflattern sind die gerichtlichen Ausführungen in der Urteilsbegründung: Der Vortrag, einen Freifunk-Knoten zu betreiben, reiche nicht aus, sondern
auch der Tatsächliche Zugriff durch Dritte
müsse vorgetragen werden.
Es wird aber noch toller: Das Gericht nimmt eine Kontrollüberlegung (auf Seite 12, letzter Absatz) bzgl. des Gesetzestextes vor und baut in Eigenregie eine neue Voraussetzung für die Haftungsprivilegierung des § 8 TMG ein:
Dass ein tatsächlicher Zugriff durch Dritte bzw. zumindest die Erreichbarkeit des Freifunkknotens von beliebigen Personen im öffentlichen Raum erforderlich ist, ergibt sich aus der Kontrollüberlegung, dass andernfalls die bloße Installation der Freifunk Firmware bereits die Haftungsprivilegierung des § 8 TMG begründet würde.
Das Landgericht ist also unzufrieden mit der gesetzlichen Regelung der Haftungsprivilegierung des § 8 TMG für AnschlussinhaberInnen, die ihren Anschluss teilen.
Was unser demokratisch gewähltes Gesetzgebungsorgan hier über ein mehrjähriges Gesetzgebungsverfahren unter Beachtung von Eingaben und Ausführungen vieler Interessengruppen entschied, wirft der Vorsitzende Richter am Landgericht Dr. Koepseln mit Richter am Landgericht Dr. Lerach und Richter Dr. Barth über Bord, weil ihnen die Folge der gesetzlichen Regelung nicht gefällt. Dass der Gesetzgeber anstelle der übertrieben kostspieligen Abmahnungen Sperransprüche ohne Anwaltskosten setzte, berührt diese RichterInnen in ihrer Rechtsspruchpraxis nicht.
Die führte zum Ergebnis, dass im Jahre 2021 BürgerInnen wie die alte Dame zu Zahlungen eines Schadensersatzes von teilweise wie hier 2000,- € für wenige Sekunden Upload-Zeit verurteilt werden, weil sie nicht wissen, wer tatsächlich die Urheberrechtsverletzung beging. Skandalös, finde ich!
Dieses Ergebnis verfolgt nicht nur das Landgericht Köln, sondern viele weitere Gerichte wie z. B. in Hessen (AG FFM, Urteil v. 14.10.2021, Az.: 32 C 1505/21), Berlin (LG Berlin, Urteil v. 23.7.21, Az.: 15 O 606/19)), Bayern (AG Aschaffenburg, Verfügung vom 7.10.21, Az.: 130 C 184/21), Hannover (LG Hannover, Urteil v. 7.9.20, Az.: 13 S 2/19) etc.
Die Folgen dieser seit Sommer 2021 gefestigten bundesweiten Rechtsprechung
AnschlussinhaberInnen können sich nicht darauf verlassen, dass das gesetzliche Versprechen zur Abschaffung der Haftungsgefahr gerichtlich umgesetzt wird. Vor deutschen Gericht erfahren AnschlussinhaberInnen in Filesharing-Prozessen ein meiner Ansicht nach zutiefst unfaires Verfahren.
Nicht nur ist es rechtlich und gesellschaftlich äußerst zweifelhaft, wie RechteverwerterInnen über Gerichtsbeschlüsse täglich an tausende Daten von AnschlussinhaberInnen kommen (Wo werden diese aufbewahrt, wann gelöscht und an wen übermittelt?), in welcher unverständlichen Form Abmahnungen von großen Anwaltskanzleien ausgesprochen und formuliert werden und wie unangenehm und inkassohaft mit AnschlussinhaberInnen kommuniziert wird.
Darüber hinaus erlebe ich bis an den äußerste Rand hin ausgeweitete richterlichen Hilfestellungen dieser massenhaften Verfahren von Rechteverwertern. Die vielfache Vereinfachung der Darlegungsanforderungen ermöglichte und ermöglicht erst die Rechtsprechung die massenhaften Abmahnschreiben an BürgerInnen. Meiner Ansicht nach muss diese für das Vertrauen in eine funktionierenden Zivilgerichtsbarkeit als Gefahr eingestuft werden.
Unser Gesetzgeber hat diese Massenabmahnungen gegen BürgerInnen weder ausdrücklich gewollt noch unterstützt. Es ist ihm leider ein gravierender Fehler unterlaufen: Weil er die Staatsanwaltschaften von den massenhaften Eingaben der Rechteverwerter entlasten wollte, lenkte er dieses Vorgehen durch § 101 Abs. 9 UrhG in die Zivilgerichtsbarkeit. Seit dem BGH-Beschluss vom 19. April 2012 – „I ZB 80/11 – Alles kann besser werden“ – ist die Zivilgerichtsbarkeit bundesweit einer enormen Penetration durch die Abmahn-Industrie ausgesetzt. Die massenhaften Anträge dieser geschäftigen AnwältInnen überrollen die Zivilgerichte, und Einzelfallentscheidungen sind von RichterInnen kaum derart zu stemmen, dass sie sich die jeweiligen (technischen) Besonderheiten ansehen und über diese nach den Regeln der juristischen Kunst beurteilen sowie ihre Entscheidungen nachvollziehbar und transparent begründen.
Wobei auch hier hier meiner Ansicht nach 2013 vom BGH richterlich nicht überzeugend argumentiert und nachvollziehbar dargelegt wurde, warum die private Nutzung einer Tauschbörse für wenige Sekunden ein gewerbliches Ausmaß darstelle. Ich kann mir dies nur dadurch erklären, dass RichterInnen das Kommunikationsmittel Internet grundsätzlich als Werkzeug und Anhaltspunkt für gewerbliche Nutzung ansähen und private Nutzung des Internets eben auch grundsätzlich ausschlössen. Dies hat jedoch mit der Wirklichkeit nichts zu tun und zeugt von einem tiefen Unverstand unseres Internets. Was mich zu der Frage führt: Dürfen RichterInnen über (technische) Sachverhalte entscheiden, die sie nur zum Teil und zu wenig verstehen? Reichen zwei Staatsexamina aus, um ein Leben lang über gesellschaftliche Neuerungen/Entwicklungen zu entscheiden? Wie transparent muss die Entscheidungsfindung in der Rechtswissenschaft sein?
Bis heute ist es mir ein Rätsel, wie RichterInnen auf standardisierte Klageschriften und mühlenartige Wiederholungen unterstützend reagieren können, indem sie den Anspruchsgegnern immer höhere Anforderungen aufbürden, ohne den Blick auf diese als AnschlussinhaberInnen zu heben.
Denn die Frage bleibt unbeantwortet: Wie erlangen AnschlussinhaberInnen Kenntnis von der TäterIn? Seit wann reicht eine einfache Befragung aus, um TäterInnen zu einem Geständnis zu bringen? Oder sind wir hier durch die Hintertür bei der Überwachungspflicht von Bürgerinnen mit Providervertrag von BürgerInnen ohne Providervertrag angekommen?
Und wir müssen über Geld sprechen: Die geforderten und mittels Urteilen stattgegeben Schadenshöhen sind losgelöst von Tatsachen und Fakten. RichterInnen vertreten die Meinung, durch mehrere Sekunden Angebot zum Upload könne ein Schaden von mehreren hunderten bis in die tausend Euro entstehen. Obwohl der BGH in seiner Faktor-Rechtsprechung eine konkrete Berechnung der Schadenshöhe verlangt und damit auch konkreten Vortrag der RechteverwerterInnen, werden hier pauschale Schadenssätze ohne rechte Grundlage geschätzt. Mich dünkt auch hier, dass gar nicht einzelne Fälle verhandelt werden, sondern vielmehr die persönliche richterliche Sicht auf das generelle und grundsätzliche Schadenspotential des Internets abgestellt wird, vielleicht sogar auch ein leicht sanktionierender Charakter mitschwingt, denn Filesharing ist nach einer Mindermeinung böse. Dass ohne Filesharingprogramme die Digitalisierung nicht funktioniert, kann zu meiner großen Überraschung offensichtlich ignoriert werden.
Der richterliche Blick in den Filesharing-Prozessen ist meiner Ansicht nach extrem verengt: Eine Urheberrechtsverletzung wurde mittels Netzwerkmitschnitts (was auch immer das ist und wie sehr sich die Unsicherheit über das Abbild eines Sachverhaltes sich aufdrängen muss) protokolliert und auf diese muss repressiv reagiert werden können.
In der Praxis entfaltet die versprochene gesetzliche Unterstützung nach dem Telemediengesetz keine Wirkung, massenhafte Verfahren gegen AnschlussinhaberInnen zu verhindern. Faktisch werden die einzelnen BürgerInnen ohne niederschwelligen Zugang zu Rechtsberatung nicht vor dem Haftungsrisiko beim Teilen ihres Anschluss geschützt.
Was ist zu tun?
BürgerInnen, die ihren Anschluss mit Dritten teilen, wie die bundesweit von der Politik unterstützen FreifunkerInnen, sind darauf angewiesen, ihre Daten selber mittels privater Einrichtung wie z. B. VPN durch das Ausland ins Internet zu senden, um sich vor unberechtigten Ansprüchen einiger RechteverwerterInnen zu schützen.
Die zarte Pflanze der Digitalisierung wird mit dieser Rechtsprechung zertrampelt.