Mit ‘Darlegungslast’ getaggte Artikel

Die alte Dame

Freitag, 12. Juni 2020

und ihre angebliche Verantwortlichkeit in einem Urheberrechtsfall.

Wie inzwischen viele tausende Freiwillige hat ein Kölner in seinem Haus einen Freifunk-Knoten eingerichtet. Anschlussinhaberin und damit Vertragspartnerin des Providers ist seine Mutter, die jedoch selber den Internetzugang – schon in Ermangelung eines eigenen Computers – nicht benutzt. Darüber hinaus ist ihr die Nutzung eines Rechners, geschweige denn der Betrieb von Software zur Teilnahme an Peer-To-Peer-Netzwerken, komplett fremd. Nach Ansicht der Warner Bros. Entertainment GmbH soll sie trotzdem Täterin in einem Fall „illegalen Filesharings“ gewesen sein. Dieser Ansicht trat das Amtsgericht Köln am 08.06.2020 (148 C 400/19) bei und verurteilte sie zur Zahlung eines Schadensersatzes i. H. v. 2000,- €.

Die Entscheidungsgründe sind außerordentlich interessant und fassen exemplarisch eine gefährliche Entwicklung zusammen, die in vielen Fällen tendenziöser Rechtsprechung der letzten Zeit deutlich wurde. In solchen Urheberrechtsverfahren müssen Anschlussinhaber neuerding darlegen, dass sie als Täter nicht in Frage kommen, teilweise sollen sie dies sogar beweisen. Auf diese Art räumen RichterInnen den Rechteinhabern wie Warner Bros. einen prozessualen Vorteil ein. Sie müssen nicht mehr selber Tatsachen vortragen, durch die sie ihre Ansprüche begründen – im Gegenteil wird nun der Anspruchsgegner einer diffusen sogenannten „Darlegungslast“ ausgesetzt, seine Nichttäterschaft vorzutragen. Dies geschieht gegen den ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers, der mit der Novelle des TMG (3. TMGÄndG von 2017) ausdrücklich eine Haftungsgefahr für Anschlussinhaber ausschließen wollte, unter anderem, um den digitalen Standort Deutschland nicht durch eine Welle unlauterer Abmahnungen zu gefährden. In den letzten Jahren sahen sich jedoch weit über 100.000 Menschen in Deutschland einem solchen Rechtsstreit ziemlich hilflos ausgesetzt.

Im eingangs beschrieben Fall ermittelte eine Firma mittels eines Forensic-Systems eine Person, die in einer Tauschbörse zum Download einer urheberrechtlich geschützten Datei angeboten haben soll. Dies stellt nach unserem Urhebergesetz eine unerlaubte Handlung dar. Der Anbieter wird über die IP-Adresse bis zu einem konkreten Internetanschluss verfolgt. Im Wege eines sogenannten Gestattungsbeschlusses des zuständigen Landgerichts gab die Deutsche Telekom AG als Provider die ladungsfähige Adresse der Mutter des Freifunkers heraus. Warner Bros. mahnte sie daraufhin ab. Zwar wusste Warner Bros. nicht, ob die Mutter ihren Anschluss alleine nutzt und die Urheberrechtsverletzung von ihr begangen wurde, vermutete dies aber. Mit der Abmahnung verlangt Warner Bros., ohne den tatsächlichen Schaden zu konkretisieren, einen Schadensersatz von 2000,- €. Um dies in eine greifbare Relation zu setzen: Dies entspricht ungefähr dem Vierfachen des Hartz-IV-Satzes.

Nach den allgemein gültigen Regeln des Zivilrechts dürfte es für Warner Bros. nicht ausreichen, einen Täter nur zu vermuten, sie müssten den Täter konkret benennen, um einen Anspruch geltend zu machen. In diesem Fall geht das Gericht jedoch davon aus, dass es Warner Bros., nicht zumutbar ist, über den Anschluss hinaus noch mehr Informationen zum Täter zu sammeln, um eine schlüssige Klage vor Gericht einzureichen. Und das, obwohl sie wirtschaftlich und technisch ungleich besser ausgestattet als die einfachen BürgerInnen.

Der zuständige Richter nennt diese prozessuale Erleichterung die „tatsächliche Vermutung eines Sachverhalts“. Die Folge davon ist, dass die Mutter im Wege der nicht gesetzlich konkretisierten „sekundären Darlegungslast“ zu dem Vorwurf der Urheberrechtsverletzung Stellung nehmen muss. Einfacher ausgedrückt: Es ist einem Anschlussinhaber ohne rechtlichen Nachteil nicht möglich, seine Täterschaft einfach so zu bestreiten. Er muss nun im Gegenteil darlegen, wie sein Anschluss genutzt wird und wer außer ihm noch als Täter in Betracht kommt.

Die Beweiserleichterung für Warner Bros. führte dann in diesem Fall zur Konstellation, dass eine fast siebzigjährige Dame, die zum Tatzeitpunkt weder einen Computer zu benutzen wusste noch den Hauch einer Ahnung von Fileharing-Tauschbörsen hatte, als Täterin genau einer solchen Handlung verurteilt wurde und für eine Tat 2.000,- € Schadensersatz zahlen soll, die sie –  von der Gegenseite komplett unbestritten – nicht begehen konnte.

Der Richter am Amtsgericht Köln Köster-Eiserfunke begründet hier seine Rechtsansicht mit der unerfüllten Anforderung, Dritte zu benennen, damit die Rechteinhaber die Möglichkeit bekommen hätten, entsprechend Beweis anzutreten. Die Beklagte genüge ihrer Darlegungslast nur, wenn die Gegenseite mit den gelieferten Informationen konkret etwas anfangen könne, was zur Durchsetzung der Uhrheberrechtsansprüche führe.

Dabei verkennt Richter am Amtsgericht Köln Köster-Eiserfunke nicht einmal, dass die Mutter DiensteanbieterIn ist, da sie Dritten den Zugang zum Internet vermittelt, § 2 Satz 1 Nr. 1 Telemediengestz. Er wendet jedoch die gesetzlich bestimmte Haftungsprivilegierung zu ihren Gunsten nicht an, sondern verweist wieder auf die sekundäre Darlegungslast. Er verpflichtete also die Beklagte vorzutragen, dass sie die Urheberrechtsverletzung nicht beging. Wenn es nun schon in einem so offensichtlichen Fall wie der alten Dame ohne eigenen Rechner unmöglich ist, den Richter davon zu überzeugen, dass diese als Täterin nicht in Betracht kommen kann – wie sollen die Millionen von Menschen aus der tatsächlichen Vermutung ihrer Täterschäft entkommen?

An diesem Punkt besteht enorme Rechtsunsicherheit: Was alles hat der Anschlussinhaber vorzutragen? Der Gesetzgeber hat dazu in § 7 Telemediengesetz geregelt:

(2) Diensteanbieter im Sinne der §§ 8 bis 10 sind nicht verpflichtet, die von ihnen übermittelten oder gespeicherten Informationen zu überwachen oder nach Umständen zu forschen, die auf eine rechtswidrige Tätigkeit hinweisen.

Die Rechtsprechung ist jedoch der Ansicht, dass es eine Nachforschungspflicht gibt:

Die sekundäre Darlegungslast führt weder zu einer Umkehr der Beweislast noch zu einer über die prozessuale Wahrheitspflicht und Erklärungslast (§ 138 Abs. 1 und 2 ZPO) hinausgehenden Verpflichtung des Anschlussinhabers, dem Anspruchsteller alle für seinen Prozesserfolg benötigten Informationen zu verschaffen. Der Anschlussinhaber genügt seiner sekundären Darlegungslast dadurch, dass er vorträgt, ob andere Personen und gegebenenfalls welche anderen Personen selbständigen Zugang zu seinem Internetanschluss hatten und als Täter der Rechtsverletzung in Betracht kommen (vgl. OLG Hamm, MMR 2012, 40 f.; Beschluss vom 4. November 2013 – 22 W 60/13, juris Rn. 7; OLG Köln, GRUR-RR 2012, 329, 330; OLG Frankfurt am Main, GRUR-RR 2013, 246; LG Köln, ZUM 2013, 67, 68; LG München I, MMR 2013,396). In diesem Umfang ist der Anschlussinhaber im Rahmen des Zumutbaren auch zu Nachforschungen verpflichtet (vgl. zur Recherchepflicht beim Verlust oder einer Beschädigung von Transportgut BGH, Urteil vom 11. April 2013 – I ZR 61/12, TranspR 2013, 437 Rn. 31; insoweit aA OLG Hamm, MMR 2012, 40 f.; OLG Köln, GRUR-RR 2012, 329, 330; LG München I, MMR 2013, 396).

Jedoch ist diese nicht ausreichend konkretisiert, so dass Anschlussinhaber nicht wissen, was ihnen im Einzelfall zugemutet wird. 

Diese Nachforschungspflicht des Anschlussinhabers weiteten RichterInnen zuletzt dermaßen aus, dass sie eine Klage gegen einen Anschlussinhaber nur dann abwiesen, wenn der Anschlussinhaber selber einen potentiellen Täter benennt. In der Folge muss der Beklagte die Arbeit des Klägers erledigen. In keinem anderen Gebiet des Zivilrechts kann einem Anspruchsgegner auferlegt werden, selber detektivisch tätig zu werden. Schlimmer noch: Einem Betreiber eines Internetzugangs – hier eines Freifunkknotens – ist es juristisch tatsächlich verboten, so umfangreiche Protokolle anzufertigen, um später den Täter einer einfachen Urheberrechtsverletzung nennen zu können.

Dies steht ohne Frage in direktem Widerspruch zum gesetzgeberischen Wille, der sich in der Novellierung des Telemediengesetzes im Herbst 2017 manifestierte. Der Gesetzgeber hatte mit der Novelle ja explizit versucht, die Unsicherheiten abzuschaffen, die mit dem Teilen eines Internetanschlusses einhergingen. Die aktuelle Rechtsprechung unterläuft den Willen des Gesetzgebers.

Das Urteil des Amtsgericht Köln vom 8. Juni 2020:

https://austausch.kanzlei-hubrig.de/Public/Die_alte_Dame_anonym.pdf